Hybride Form und die Ambivalenz Ihrer Elemente machen einen bedeutenden Teil der Fassadenkonzepte von GRAFT aus. In dieser kleinen Einführung in die Konzept- und Formfindung erzählen wir die Geschichte dreier Entwürfe, in denen die Fassade eine definierende Rolle spielt. Die Projekte Charlie Living, Bricks und A Laska sind in den letzten fünf Jahren in Berlin entstanden und stehen für exemplarische Herangehensweisen an das aktuelle Thema der Stadtfassade. Wir zeigen zwei gebaute Entwürfe und ein sich im Bau befindendes Projekt.
Über Berliner Fassaden
Die wieder aufflammende Faszination für die „europäische Stadt“ nach Jahrzehnten der Moderne als „International Style“ trug seit der Berliner Internationalen Bauausstellung IBA 1984/87 maßgebend dazu bei, dass die Prinzipien der Stadträume des Barock, Klassizismus und des 19.Jahrhunderts wiederentdeckt und daraufhin das Thema Stadtreparatur die folgenden Jahrzehnte der Berliner Architektur und somit ihrer Fassaden definierte.
Die thesenhafte Reduktion auf angebliche Kern-Qualitäten des „steinernen Berlin“ mit seinen Lochfassaden scheint rückblickend und in fast widersprüchlicher Weise auch das reduzierte Form-Vokabular der Moderne seit der Vorkriegszeit zu spiegeln. Schlichte Putzfassaden mit zuweilen als „subtil“ behaupteter Gliederung und kaum vorhandener Reliefbildung oder Ornamentik wurden massenhaft zu zweidimensionalen, fast naiven Gebäudeantlitzen mit sich wiederholenden Fassadenrastern oder Schießscharten-artigem Schlitzrhythmus. Die "banale" Lochfassade wurde als Basiselement der neuen Berliner Blockrandbebauung, gerechtfertigt durch vereinfachten Bezug zur Historie, angebliche „Subtilität“ der Reduktion und die Beschränkung auf eine als „richtig“ behauptete, selbstreferenzielle und meist eindimensionale Bezugnahme auf das Prinzip Baukörper mit regelmäßigem aufrechtstehendem Fenstern. Ein Schelm der Mies Van der Rohe´s „Less is More“ dahinter vermutet.
GRAFT beobachtet und analysiert diese Entwicklung seit 25 Jahren und setzt ihr einen hybriden Ansatz entgegen, der die eklektischen und bildreichen Qualitäten der Fassaden des 19.Jahrhunderts mit zeitgenössischen Ansprüchen an Vielgestaltigkeit, Individualität, Diversität und hybride Zielsetzung an „inhabitable facades“ verknüpft. Stildiversität war bis zum Zweiten Weltkrieg der Markenkern Berliner Urbanität. Fassaden sind Gesichter der Stadt und Ihrer Bewohner: dreidimensionale, raumhaltige, mehrschichtige Gebäudehüllen, die vom Gebäudeinneren heraus Ausstülpungen, Verzierungen und Ornamentik in den Außenraum brachten. Beeindruckende Eingangsportale und intrikate Loggien, einladende Erkerarchitekturen zeigen die Qualität der Übergangsbereiche zwischen Innen und außen, die mit ihrer Halb-Öffentlichkeit dem Leben der Stadt eine alltägliche Großzügigkeit und Bühne verleihen.
Der Eindimensionalität vieler aktueller Lösungen setzt GRAFT Entwürfe entgegen, die durch Reliefbildung, Tiefenwirkung und Plastizität die Mehrschichtigkeit der vielgestaltigen Fassadenarchitektur des 19. Jahrhunderts wieder aufnehmen und übersetzt diese in eine neue zeitgemäße Architektursprache.
Die Fassade ist historisch daher nicht nur als Bild zu verstehen, sondern auch als Raum. Dieser kann Eigenschaften haben, der dem dahinter verbogenen Gebäudekonzept im Übergang zur Umgebung zusätzlichen Ausdruck und Funktion verleiht. GRAFT nennt das im Entwurfsprozess den performativen Aspekt der Fassade: sie muss aktiv und permeabel sein, nur so ermöglicht sie neue Deutungsmöglichkeiten und Lebensrituale.
BRICKS
Berlin Schöneberg
THEMA...........Mehrschichtige Ziegelfassade
TYPUS...................Lochfassade mit Theaterwandmotiv
METHODIK....................Parametrisches Design
Das ehemalige Postfuhramt in Berlin Schöneberg besteht aus Backsteingebäuden, die zwischen den Jahren 1890 - 1920 entstanden sind. Die vorgefundenen Bestandsgebäude sind beispielhafte Teile einer prägenden Zeit des architektonischen Wandels, der sich von Historizismus, über den Backsteinexpressionismus zur Moderne weiterentwickelt.
Diese nennen wir den ersten bis dritten "Akt", dem GRAFT einen vierten „Akt“ in der gestalterischen Geschichte von BRICKS hinzufügt. Im Übergang vom ersten zum zweiten Akt der Verwendung des Backsteins ersetzen die bis dato in Sandstein ausgebildeten ornamentalen Teile und bilden diese in expressiver Weise ausschließlich in Backstein nach. Im dritten Akt, der Backsteinmoderne, sind die Backsteinflächen vom Füllmaterial zwischen der gliedernden Ornamentik zu Volumenkörpern geronnen, die nun im Falle des Postfuhramts vom neuen Automobilverkehr und den Wenderadien verformt ein Abbild der neuen Bewegungsräume bilden. Wir schließen mit unserem Entwurfsansatz an diese hochinteressante Entwicklung in der Verwendung des Backsteins an und greifen den Ansatz der bisher nur im Grundriss, zweidimensional gebogenen Backsteinwände der expressiven Backsteinmoderne aus den 20er Jahren auf, um diesen parametrisch und plastisch weiter zu entwickeln.
So folgt dieser Logik organisch der "vierte Akt" der zeitgenössischen Ergänzung von GRAFT.
Der Lückenschluss zur Hauptstraße hin wölbt sich mit seinem Haupt-Eingang als zweifach gekrümmte Fläche gegen Innen und überwölbt den Weg der Besucher in das Gelände hinein. Die biomorphe Form des Zugangs wird dabei zum Kulminationspunkt der gesamten Hauptstraßen-Fassade aus Neu und Alt.
Das Gesicht des Neubaus, das in der zur Verfügung stehenden Baulücke als Blockrand-Ergänzung eine klare Lochfassade als Ausgangspunkt nimmt, verwandelt sich im Bereich des Eingangs durch das Zurückweichen der Backsteinhaut bei in der Gebäudeflucht verbleibender Fensterebenen zu einem Spiel plastisch hervortretender Erkerkuben. Das „Negativ“ der Öffnungen, der Löcher der „Lochfassade“ wird zum Positiv, dem hervortretenden Fenster als Volumen, einer Relief-gebenden Plastizität. Eine Verwandlung und Umkehrung der gewohnten Eindeutigkeit aus Volumen und Öffnung, Positiv und Negativ.
Auf der Rückseite des Gebäudekomplexes wird der Fassade des rückwärtigen Blockschlusses entlang der Belziger Straße hingegen wird aus den auch hier verwendeten Backsteinen eine ganz andere plastische Funktion zugewiesen: Sich aus der Fassadenfläche heraus wölbende Balkone geben dahinter liegende Loggia-artige Räume frei und lassen den Eindruck entstehen, eine Haut aus Backstein hätte sich vom eigentlichen Volumen des Baukörpers gelöst und einen Zwischenraum im Schicht-artigen Aufbau der Fassade entstehen lassen. Zwei unterschiedliche Balkon-Geometrien wechseln sich Geschoss für Geschoss über die Höhe der gesamten Fassade ab und so entsteht der Eindruck eines Gewebes aus Backstein, das als gewellter Vorhang die äußerste Haut des Hauses bildet. Auch hier interessiert uns die Ambivalenz aus Elementierung der Fassade im Aufbau und dem dennoch vorherrschenden Eindruck eines nahtlos an die Nachbarbebauungen anschließenden Stadtbausteins.
Die progressive Haltung in der jungen Baugeschichte Berlins versuchen wir so in unserem Entwurf aufzunehmen und weiter zu entwickeln, dass der gesamte Gebäudekomplex eine Brücke von der mehr als hundert Jahre zurückliegenden beginnenden Transformation in der Verwendung des Backsteins in die Jetztzeit zu schlagen vermag.
CHARLIE LIVING
Berlin Mitte
THEMA...........................Innerstädtische Freiräume
TYPUS.......................................Wohnregal
PERFORMATIVER ASPEKT..................Naturgeführte Morphogenese
Der für Charlie Living zur Verfügung stehende Standort in unmittelbarer Nähe zur historischen Stadtmitte Berlins mit seinen zahlreichen Verwaltungs-, Büro, Einkaufs- und Kulturbauten ist für einen Wohnungsbau der vorgeschlagenen Größe sehr ungewöhnlich. Zusätzlich befindet sich das Projekt im Spannungsfeld der dichten Blockrand- und Hofabfolgen der Friedrichstadt und der frei stehenden markanten Figur des benachbarten E-Werk. Die in unmittelbarer Nähe zum Checkpoint Charlie gelegene Wohnanlage „Charlie Living“ antwortet darauf im Gegensatz zu den in der Umgebung vorherrschenden Blockrandbebauungen mit Innenhöfen, mit vier Solitärkörpern, die räumlich einen linearen Diagonalweg durch das Projekt einfasst.
Die Anlage besteht aus drei achtgeschossigen Hauptgebäuden (Block A, B und C) und einem kleinmaßstäblicheren Cluster von Stadthäusern im Inneren (Block D) - die zueinander in Beziehung gesetzt, leicht gegeneinander geneigt und polygonal modelliert, einen spannungsvollen landschaftsplanerischen Grünraum bilden. Der öffentlich zugängliche Innenhof und die Zugänge der Gebäude miteinander, erlauben die Durchwegung mit dem angrenzenden Blockinnenbereich. Insgesamt befinden sich in Charlie Living 243 Wohnungseinheiten, die auf Balkonen durch private, auf dem Dach halböffentliche und in den Hofabfolgen öffentliche Naturräume mit viel Grün ergänzt werden.
Insbesondere die Idee, das Wohnungsinnere durch großzügige Balkone in die vom Straßenraum abgewandten Blockinnenbereiche hinein auskragen zu lassen führt dazu, dass den Außenflächen der Wohnungen mehr Raum gegeben wird und hilft bei der Entstehung eines privaten Hofquartiers, dessen grüner Charakter sich über die üppig mit Bäumen bepflanzten Fassaden nach oben erweitert.
Formal ermöglicht wird die grüne Fassade durch eine Morphogenese ausgehend vom raumgreifenden Wachstum der Bäume und deren Wurzeln. Die Origami-artigen Rück- und Vorsprünge in der Fassade werden durch Baumtröge für die Wurzelbereiche gebildet, während deren versetzte Anordnung und wechselseitige Faltungen über die Höhe der Fassade dem Baumwuchs Freiraum nach oben verleiht. Durch diese eigenständige Geometrie entstehen großzügige Loggien, über deren größten Auskragungen sich die geringsten Auskragungen der darüber befindlichen Wohnung befinden – so entsteht durchgängig eher das Gefühl von Dachterrassen, die die Wohnungen nach außen erweitern. Das dem Bau vor-gestellte Balkon-Regal übernimmt so zusätzlich die Funktion einer Raumschicht vor dem eigentlichen Baukörper und verleiht der Fassade Relief und Tiefe, über die Transparenz der Wohnungen bis in die Tiefe des Baukörper-Volumens hinein.
Das Spiel zwischen privatem Innenraum, der halb-privaten Grünfläche der Loggien und Erker, bis hin zur öffentlich begehbaren Hof- und Dachbegrünung ermöglicht ein "Außen-Innen-sein" in der Stadt. Was gemeinhin hinter der Lochfassade verborgen ist, wird in den Außenraum geführt, vollverglaste Fassaden erhöhen das Gefühl des Zäsurlosen Übergangs zwischen Innen und Außen, währen die Balkon-Geometrien mit großen Ausmaßen wiederum Sichtschutz und Privatsphäre gewähren. Bei Charlie Living haben die Bedingungen des Wachstums der Natur den die Fassadengeometrie bestimmt, "Form Follows Nature", in diesem Fall: Form folgt dem privaten Naturbezug.
Das freistehende Gebäude bietet auch an der westlichen Grundstücksgrenze allen Wohnungen eine besonders vorteilhafte Belichtung. Je nach Tageszeit und Lichteinfall schimmert die metallene Fassade mal silbern und mal golden anmutend, ein Wandel über den Tagesverlauf, der dem Quartier ein ständig wandelndes Gesicht verleiht.
A LASKA Berlin
THEMA...............New Work am Perimeter, die befreite Raummitte
TYPUS................................Plastische Erkerfassade
PERFORMATIVER ASPEKT..................Porosität
Die digitale Vernetzung in der Arbeitswelt hat spätestens seit den Herausforderungen während der Corona Pandemie zu vielen Fragestellungen neuer Arbeitswelten zwischen Präsenz im Büro, Home Office und „Third Places“ geführt. Unser Augenmerk liegt hier im Besonderen auf Layout und Flexibilität aktueller Bürogrundrisse. Fragen zur Privatsphäre und intuitiver Teamarbeit sind hier ebenso wichtig wie die perfekte digitale Infrastruktur und die Erweiterung des Büroraumes in den virtuellen Raum, der online Konferenzen und Präsentationen. Das Projekt A LASKA sucht nach einer neuen Antwort, die über die innenarchitektonischen Maßnahmen hinaus das Gebäude und insbesondere dessen Fassade adressiert.
Unser übergeordnetes Entwurfsziel war es, die richtige Szenografie zu entwerfen, in der sich Angestellte das Gebäude und die Räume, in denen sie arbeiten, als ihr perfektes Arbeitsumfeld aneignen können. Neben der Flexibilität und Veränderbarkeit von Grundrissen war es aus unserer Sicht an der Zeit, mithilfe einer starken Fassadenkonzeption die Qualitäten des Innenraumes so zu erweitern, dass die Fassade von innen nach außen erlebbar, betretbar bzw. als Grenze überwindbar zu sein scheint. Während Raum für Kommunikation in neueren Arbeitswelten häufig in der Mitte des Raumes angeboten sind, wo gleichzeitig allerdings auch Bewegungszonen und Unruhe vorherrschen, entschieden wir, entlang der Fassade in gleichbleibendem Rhythmus Erker-artige Nischen anzuordnen, die ein Heraustreten aus der bewegten zentralen Zone, sogar über die Grenze der vorherrschenden Fassadenlinie hinaus erlauben. Zum Telefonieren, für eine Videokonferenz, ein schnelles informelles Meeting oder einfach als break out sind dies Ausbuchtungen ein idealer Ort und Kontrast zur offenen fließenden Raumlogik der Großraumbereiche.
Mit den beiden A LASKA Zwillingsgebäuden ist es gelungen, eine Typologie zu entwickeln, die der Fassade eine neue Rolle beim Arbeiten der Zukunft aufzeigt. Die Fassade ist Ergebnis einer innovativen Strategie einer atmenden, permeablen Gebäudehaut. Schon bei anderen Büroausbauten haben wir feststellen können, dass sich bei Bürobauten Aktivitäten und Sonderzonen an der Fassade ansiedeln: Jetzt wandern Begegnungszonen, die sich früher im Gebäudeinneren befanden, nach außen. Individuelle Konzentration oder Face-to-Face-Meetings findet anstelle in herkömmlichen Rasterinseln oder Besprechungsräumen in Loggien, Wintergärten oder auf Dachterrassen statt. Eine neue Arbeitstopographie entsteht, in der man als Ergänzung zum Home Office telefonieren, sich treffen, sich besprechen kann. Die Fassade entwickelt sich so von einer harten, undurchsichtigen Fassadenschicht zur lebendigen Gebäudehülle.
Die Entwurfsgeschichten wurden nacherzählt von den GRAFT Gründungspartnern.