Für Musik entwerfen

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Für Musik entwerfen

Präludium

Carl Bechstein Campus Volumetric Design
Carl Bechstein Campus - Der große Kammermusiksaal © GRAFT

Seit der Gründung von GRAFT als „Studio für Architektur, Stadtplanung, Design, Musik und dem Streben nach Glück“ ist Musik ein fester Bestandteil der Bürokultur.

Musik lässt als universelle Sprache Menschen über Kulturen- und Ländergrenzen hinweg zusammenfinden. Durch den künstlerischen Ausdruck im Zusammenspiel der Stimmen werden Einzelperspektiven überwunden, sodass die Transformation der Vielstimmigkeit in Harmonie zum Ziel der Musik wird.

Vom Musikmachen der GRAFT-Gründer der ersten Stunden, über Bühnen-, Szenografie- und Performance-Metaphern in der Architektur und die kreativen Entwurfsprozesse in „architectural jam sessions“ von der Anfangsphase bis heute, schließt sich mit dem Gewinnerentwurf zum Carl Bechstein Campus in Berlin nun ein Kreis.

Exposition: Zusammenarbeit in Musik und Architektur


Musik gliedert die Zeit, Architektur den Raum. Konträr zu diesen Prinzipien wird Musik erst im Raum und Architektur in der Zeit wirklich wahrgenommen – beide Aspekte werden so individuell als miteinander verbunden erlebt.
Über ein musikalisches Verständnis wird es möglich, Architektur als eine Szenografie, als Bühne für unsere privaten und zwischenmenschlichen Begegnungen und als Ökosystem unserer Bewegung im Raum und unseres Zusammenlebens zu begreifen. Architektur ist mehr als Materie, sie ist der Rahmen für unsere sich stets weiterentwickelnden und wandelnden gemeinschaftlichen Rituale.

Jam Session Architecture © GRAFT
Jam Session Architecture © GRAFT

Was bei klassischen Musikkompositionen aus der Hand eines Komponisten erst durch das Zusammenfinden eines mehrstimmigen Klangkörpers im Konzert gemeinsam zum Leben erweckt wird, wurden kollektive Kompositionsabläufe spätestens seit den Anfängen des Jazz in gegenseitige und aufeinander reagierende Kreativ-Choreographien überführt.

Dies ist den aktuellen Arbeitsprozessen im Architekturbüro nicht unähnlich, bei denen aus vielfältigen Anforderungen und Experten-Stimmen im abwägenden und balancierenden Entwerfen und in wechselnden Arbeitsgruppen gemeinsam ein Endprodukt - ein unverwechselbares Unikat - entsteht. Es lässt sich sehr viel aus jeder Art der musikalischen Zusammenarbeit interpretierender Musikensembles lernen und die Arbeit bei GRAFT ist einer solcher, in ihren Prinzipien „musikalischen“ Philosophie nicht unähnlich.

Chicago Symphony Orchestra, Riccardo Muti © Wikipedia Commons
Chicago Symphony Orchestra, Riccardo Muti © Wikipedia Commons
Jazz Band © Wikipedia Commons
Jazz Band © Wikipedia Commons

So gleicht der Prozess des Entwerfens im Architekturstudio heute bei GRAFT nicht dem eines Symphonieorchesters, das aus einem Team von Spezialisten besteht, die wiederum von einem Dirigenten geleitet werden. Viel eher haben wir es mit der Jam Session eines Jazz Ensembles zu tun, in dem die vielen Stimmen der beteiligten Musiker autonom und abwechselnd zur Geltung kommen und den Entstehungsprozess wechselseitig beeinflussen. Hier gibt es keinen, oder eher wechselnde „Leader“, denn die „Musik“ entsteht gemeinsam, die Hierarchie ständig in Frage stellend. Sie lebt erst durch gegenseitige Inspiration.

Und auch wie beim Musizieren, kommen beim architektonischen Entwurf unterschiedliche Methoden und Instrumente zusammen - Stil, Inhalt und Bedeutung der Gestaltung entsteht in der Gemeinschaft und wird zu kollektivem Ausdruck. Ist dieses Ziel erreicht, hat sich wie in der Musik, als auch in der Architektur das Werk von der Autorenschaft der Komponierenden oder Entwerfenden gelöst. Das gemeinsame Entwerfen, das mehrstimmige Improvisieren funktioniert erst dank einer geteilten Vision oder einer Metapher als Leitbild.

Durchführung: der Carl Bechstein Campus

Architekturmodell Carl Bechstein Campus © GRAFT
Architekturmodell Carl Bechstein Campus © GRAFT

Ziel des neuen Carl Bechstein Campus ist es, einen Ort des musikalischen Schaffens, der Mehrstimmigkeit, des Lernens und Erlebens von Klaviermusik zu schaffen und eine solche musikalische Haltung auf den Stadtraum an der Heidestraße, wo das Projekt entstehen wird, zu übertragen. Hier werden in Zukunft Stipendiaten in einer Bechstein Akademie und 50 angeschlossenen Künstlerapartments gefördert und ein Museum für die Sammlung und Erforschung historischer Instrumente entstehen. Über dem Flagship Store der Bechstein Klaviere und Flügel werden zwei Kammermusiksäle errichtet, die in enger Zusammenarbeit mit dem namhaften Akustiker Tateo Nakajima insbesondere für die Aufführung von Klaviermusik einen Beitrag zur Kulturlandschaft Berlins leisten können.

Als hybrider Standort wird der Carl Bechstein Campus von unterschiedlichen Akteuren bespielt, gestaltet und gibt vielfältigen Aktionen Raum: für Stipendiaten, Laien, Profis und Konzertbesucher wird Klaviermusik auf der Bühne, im Verkauf und Verleih der Instrumente, dem Ausstellen der historisch wichtigsten Objekte erlebbar und der Campus zum neuen Herz der Marke Bechstein, das auf die Umgebung des Hauptbahnhofs und der Europacity ausstrahlen kann. In Zusammenarbeit mit GRAFT soll der Carl Bechstein Campus internationale Anziehungskraft entfalten können und zum musikalischen Wohnzimmer werden, das als öffentlich zugänglicher Ort für alle Stadtbewohner die Vision, Tradition und Qualität des Unternehmens verkörpert.

Studentisches Wohnen für Stipendiaten der Carl Bechstein Stiftung © GRAFT
Studentisches Wohnen für Stipendiaten der Carl Bechstein Stiftung © GRAFT

Metapher und Narrativ

Eine Metapher, wörtlich eine Übertragung, ist ein sprachliches Mittel, das Eigenschaften eines Objekts oder Zustands auf ein anderes, zunächst unähnlich erscheinendes Objekt überträgt. Metaphern aktivieren die Erinnerungsräume der Wahrnehmenden, indem sie persönliche Erfahrungen und Verbindungen heraufbeschwören. Gerade diese Vieldeutigkeit wird in der kreativen Arbeit geschätzt, da sie hilft, komplexe Ideen zu kommunizieren.

Die Bestimmung des Carl Bechstein Campus als Ort der Musik und Zusammenarbeit hallt durch seine äußere Gestaltung in den Stadtraum hinein. Im Umfeld regelmäßiger und durchweg rechtwinkliger Stadtbausteine ist die geschwungene Ziegelfassade des neuen Bechstein Campus besonders. Sie schafft einen neuen diagonal gefassten Vorplatz für das Konzertfoyer und zitiert metaphorisch den „Bühnenvorhang“: Das „Heben“ der hier steinernen Vorhang-Fassade öffnet an der gekrümmten Ecke den Eingangsbereich zu den Kammermusiksälen und lenkt den Blick in das obere Konzertsaalfoyer im zweiten Geschoss, das unter dem schweren Vorhang hervorleuchtet.

Axonometrie Carl Bechstein Campus ©GRAFT
Axonometrie Carl Bechstein Campus © GRAFT

Die lange Front entlang der Heidestraße führt darüber hinaus als Grundstruktur eine vertikale Gliederung ein: die in regelmäßigen Abständen gesetzten, aus der ebenen Fassade hervortretenden Lisenen drehen und renken sich nach und nach um ihre eigenen Achsen und verändern allmählich ihre Distanz zueinander. Die Fassade scheint zwischen geschlossenen Bereichen und vertikal gegliederter Taktung hin und her zu oszillieren. Diese Dynamik lässt durch die gebaute Architektur das Bild eines musikalischen Klangkörpers vor dem inneren Auge aufblitzen – vom Anzupfen der Saite über „musikalische Schwingung“ bis hin zum Nachhall des Dreiklanges, scheint der Schall sich über die Textur der Fassade hinweg auszubreiten.

Das einheitliche Fassadenmaterial des Backsteins, das für viele Bauten Berlins auch an der Heidestraße konstitutiv ist, fasst dabei das heterogene Gebäudeensemble insgesamt ein und integriert das bestehende Gebäude – wie ein schwerer Vorhang umhüllt der Backstein den gesamten Campus.

Fassade Carl Bechstein Campus © GRAFT
Fassade Carl Bechstein Campus © GRAFT

Klangraum

Der GRAFT-Entwurf für den Carl Bechstein Campus ergänzt die beiden wichtigsten Kammermusiksäle der Stadt, in deren Konzept ebenfalls Metaphern-reiche Architektursprachen innewohnen.

Der Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie gibt wohl einer der renommiertesten Bühnen der klassischen Musikwelt ihren Raum. Die charakteristische Mittelbühne wurde von Hans Scharoun entworfen und gilt seitdem als Vorbild dieser Zentral-Typologie. Um die Bühne herum haben 1136 Zuhörer in dem vieleckigen Amphitheater Platz. Die bis heute immer wieder zitierte Metapher eines „Weinbergs“, in dem Gruppen von Zuhörern sich zueinander orientiert begegnen und die Musik-Schaffenden in ihre Mitte nehmen, ist für viele kammermusikalische Aufführungen zum Standard geworden.

Die Mittelbühne des Kammermusiksaals der Berliner Philharmonie, entworfen von von Hans Scharoun © Creative Commons Wikipedia
Der Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie, entworfen von von Hans Scharoun, 1987 fertiggestellt, bietet 1136 Plätze © Wikipedia Creative Commons
Pierre Boulez Kammermusiksaal der Barenboim-Said Akademie, entworfen von Frank Ghery © Creative Commons Wikipedia
Pierre Boulez Kammermusiksaal der Barenboim-Said Akademie, entworfen von Frank Ghery, 2017 fertiggestellt, bietet 682 Gästen Platz © Wikipedia Creative Commons

Der von Hans Scharoun formulierte Satz gilt als Konzeptursprung: „Ein Mensch im Angesicht eines andern, gereicht in Kreise, in mächtig schwingendem Bogen um strebende Kristall-Pyramide.“, Sofort, wenn man den Saal betritt, versteht man sowohl die menschliche Gemeinschaftskomponente aus der Perspektive der Zuhörenden, als auch die bildlich-musikalisch formulierte, elegante Zerbrechlichkeit des Klangraumes.

Das zweite wichtige Berliner Beispiel ist der Pierre-Boulez-Saal, angeschlossen an die Barenboim-Said Akademie. In diesem werden in einen nahezu quadratischen Saal für die Sitzplätze zwei geschwungene Ovale eingefügt, die sich gegeneinander leicht verdrehen und aufeinanderschichten. „Musik für das denkende Ohr“ soll Zuhörern in allen Richtungen gleichermaßen zugänglich sein und mit diesem Sprachbild eine gewünschte Nähe von Empfindung und Intellekt beschreiben. Die Freundschaft zwischen dem Architekten Frank Ghery, der diesen Musikraum zusammen mit dem berühmten Dirigenten und Pianisten Daniel Barenboim entwickelte, bildete die Grundlage für einen Ort, der Musik und Architektur auf einzigartige Weise verbindet.

Axonometrie, Carl Bechstein Campus © GRAFT
Axonometrie, Carl Bechstein Campus © GRAFT

In diesem Kontext erweitert der Carl Bechstein Campus die Klangräume Berlins um einen weiteren größeren Kammermusiksaal für ca. 500 Besucher. In seiner Kombination aus modifiziertem Schuhkarton-Typus mit eher gerichteter Bühne, großer Raumhöhe und seitlichen Rängen entsteht ein optimaler Klangkörper für den gerichteten Klang eines Konzertflügels, kammermusikalischer Ensembles, solistischen Gesangs mit Liedbegleitung oder eines Kammerchores. Ergänzend dazu wird ein kleinerer Kammermusiksaal für 100 Besucher mit höherer technischer Ausstattung als Raumklang-Labor am Standort entwickelt. Ziel ist ein ideales und zeitgenössisches Umfeld für ein ganzes Ökosystem der Klaviermusik, das die Musiklandschaft Berlins um einen neuen spannenden Baustein bereichert.

Längsschnitt Carl Bechstein Campus © GRAFT
Längsschnitt Carl Bechstein Campus © GRAFT

Reprise: Das Stadtinstrument

Der Entwurf für den Carl Bechstein Campus ist seiner Natur nach künstlerisch und erzählerisch – er spielt auf vielen Ebenen mit Assoziationen: Szenografisch und atmosphärisch fördern die gestalteten Räume die Rituale des musikalischen Schaffens für außergewöhnliche Eindrücke und Erlebnisse.

GRAFT legt großen Wert darauf, Orte zu schaffen, an denen Menschen auf vielfältige und gleichberechtigte Weise zusammenkommen können. Musik spielt dabei eine wichtige Rolle: Sie war nicht nur ein verbindendes Element zwischen den Gründern, sondern prägt auch die Kultur ihres Büros von Anfang an.

Auf diesem Wege kann das wirklich Städtische entstehen: denn Urbanität heißt Lebendigkeit, Vielseitigkeit und Dynamik – der Carl Bechstein Campus wird kein stummes Gebäude, sondern eines die Musik unterstützendes, großzügig widerhallendes Stadtinstrument.

Carl Bechstein Campus © GRAFT  © Aesthetica Studio
Carl Bechstein Campus © GRAFT © Aesthetica Studio

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