GRAFT schreibt über das Wohnen der Zukunft für die Jubiliäumsausgabe des Tagesspiegels

Berlin Molkenmarkt

Gegensätze sind nicht das Problem der Stadt,
sie sind ihre Qualität!

Unsere Haltung zur Zukunft ist immer ein Spiegel unseres aktuellen Zustands und wie wir ihn interpretieren. Die Zukunft wird erst dann zu einem positiven Ort, wenn wir verstehen, dass sie aus der Gegenwart und aus unserem heutigen Handeln entsteht und dabei genauso schützenswert ist wie unsere Herkunft. Und damit wird deutlich, warum Berlin der perfekte Ort ist, um über die Zukunft des Wohnens nachzudenken: In der viel zitierten Unvollständigkeit Berlins liegt die eigentliche Stärke dieser Stadt, denn sie erlaubt es, sie immer wieder neu zu denken. Wenn wir also die Frage stellen, wie wir künftig wohnen werden, dann ist das keine bloße architektonische Frage, aber ein Abbild unserer Haltung zum Zusammenleben und unserer Vision einer lebendigen Stadt.

Die gesellschaftlichen und demographischen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte haben die Idee vom Wohnen als privatem Rückzugsort in einem traditionellen Familienmodell grundlegend verändert. Heute leben mehr Menschen alleine oder auch alleinerziehend als je zuvor, und zugleich oftmals in Wohnungen, die weder in ihrer Größe noch in ihrer Struktur diesem Lebensentwurf gerecht werden. Entsprechend brauchen wir Wohnmodelle, die das Ideal des idyllischen Eigenheims erweitern. Modelle, in denen die einzelne Wohnung kompakter wird, die Lebensqualität jedoch durch gemeinschaftlich nutzbare Räume, durch nachbarschaftliche Infrastrukturen und architektonisch intelligente Übergänge zwischen Privatheit und Öffentlichkeit aufgewertet wird.

Bezahlbarer Wohnraum kann eben auch dadurch entstehen, dass die Wohnungen kleiner werden, sie dafür aber in der Aufteilung und im Schnitt der Fläche so intelligent sind, dass man gerne in ihnen wohnen möchte. Durch flexible Strukturen der Gebäude können Einheiten je nach Lebensabschnitt mitwachsen. Und genau an dieser Stelle sind die Architekten gefordert, durch Erfahrung und Ideenreichtum gut funktionierende und flexible Grundrisse zu gestalten und eine hohe Qualität zu erzeugen.

Dabei ist nicht nur an innerstädtische Wohnblöcke zu denken. Analoge Prinzipien sind auch für das Wohnen im Einfamilienhaus realisierbar. Zusammen mit der Unternehmerin Jana Mrowetz hat GRAFT „Urban Cell“ entwickelt, ein Konzept für modulare Wohnquartiere, das mit innovativen konstruktiven, energietechnischen und vor allem aber sozialen Lösungen das eigene Haus wieder bezahlbar machen will. Gedacht für europäische Metropolregionen kombiniert Urban Cell private Wohneinheiten in verschiedenen Größen mit einem gemeinschaftlichen Clubhaus, Coworking-Flächen, wechselnd nutzbaren Gästeräumen sowie verschiedenen Angeboten für Erholung und Freizeit. Mit dieser Flexibilität in der Nutzung wächst (und verkleinert sich) sich der eigene Platz zum Wohnen parallel mit den Veränderungen im Lebensverlauf.

So wird neuer Wohnraum erschlossen, aber eingebunden in ein soziales Netzwerk und nicht als reiner Platzverbrauch der grünen Wiese. Denn die Option mit weniger Fläche auszukommen, basiert nicht auf einer rein ökonomischen Begründung. Vielmehr geht es darum, welche Qualität wir jenseits der eigenen vier Wände denken können und wie zukünftige Quartiere Identitäten ausbilden, in die Wohnungen und ihre Bewohner eingebettet sind. Und ob sie ihren Bewohnerinnen und Bewohnern vielfältige Möglichkeiten der Teilhabe und Begegnung bieten.

Solche Konzepte für Neubauten ergänzen sich mit den Aufgaben für die bestehenden Wohnstrukturen. Denn das Wohnen der Zukunft findet zum größten Teil in jenen Häusern statt, die heute schon stehen. Diesen Bestand zu pflegen, zu erhalten und klimaneutral oder besser noch klimapositiv zu ertüchtigen, rückt mehr und mehr ins Zentrum.

Die Mittel, mit denen die physische und psychische Gesundheit der Menschen ebenso wie die Habitate der Tiere und Pflanzen geschützt werden können, sind dabei schon lange bekannt: versiegelte Flächen aufbrechen, Frischluftschneisen schaffen (oder erhalten), tierfreundliche Bepflanzung und Bäume integrieren, kreislauffähige Materialien verwenden, Verschattung mitdenken, Regenwasser auffangen, speichern und weiternutzen, Platz für Bewegung und Interaktion freihalten… Die Ideen und Vorschläge im großen und kleinen Maßstab sind zahlreich und ihr Erfolg gut belegt. Was hindert uns daran, sie einzusetzen und unsere Stadt gesünder, besser zu machen?

Dass dieser notwendige Einsatz an vielen Orten zu vermissen ist, kann auch durch die geringe Eigentumsquote in Deutschland begründet werden. Historisch bedingt durch den drängenden Wiederaufbau der Nachkriegszeit und ostdeutsche Planwirtschaft gehört sie zu den niedrigsten in Europa. Aber Eigentum stärkt Verantwortung, erzeugt Engagement und fördert Stabilität. Wenn wir über die Zukunft des Wohnens sprechen, müssen deshalb auch neue Eigentumsformen viel stärker verbreitet werden, die mehr Menschen eine Teilhabe ermöglichen: Genossenschaften oder Baugruppen beispielsweise.

Wir dürfen dabei nicht in eine neue Planwirtschaft verfallen. Die politischen und bürokratischen Mechanismen, die gegenwärtig vielerorts das Bauen blockieren, erzeugen einen Zustand, in dem anstelle des besten Konzeptes, das am wenigsten strittige den Zuschlag erhält. Es braucht also dringend den Mut, wieder zuzulassen, dass Ideen konkurrieren und dass Experimente gewagt werden dürfen. Ohne Vertrauen in die Akteure keine Bewegung und keine Innovation. Dies kann mitunter auch bedeuten, Diskussionsprozesse wieder zu eröffnen, wenn sich die Bedingungen in der Stadt geändert haben. Wir denken da konkret an das Tempelhofer Feld – denn wer die Diskussion über eine teilweise andere Nutzung abwürgen möchte, baut im Grunde neue Mauern.

Ebenso aufgeschlossen müssen wir uns den Prozessen der Digitalisierung zuwenden. Künstliche Intelligenz wird nicht die Planerinnen und Planer ersetzen, aber sie wird helfen, Prozesse zu vereinfachen, die Entwurfsvielfalt zu steigern und Kosten zu reduzieren. Bereits heute wird dies deutlich im Bereich des seriellen Bauens, wo KI-gestützte Verfahren in der Lage sind, die Qualität der Gebäude zu erhöhen, weil mit ihnen die vormals uniformen Serienprodukte individualisiert werden können.

Eine große Chance, denn zumeist führt serielle Vorfertigung zu kostengünstigerer Herstellung und am Ende zu kürzeren Bauzeiten, was sich gerade im innerstädtischen Bereich in weniger Baustellen, weniger Platzinanspruchnahme und kürzeren Finanzierungszyklen niederschlägt. Wobei auch diese Planbarkeit verschiedene Autoren haben muss: eine Vielzahl an Firmen, an Materialien, an Herstellungsprozessen, die den Bereich des seriellen Bauens mit Auswahl und auch Konkurrenz beleben.

Untrennbar mit dem Wohnen ist die Mobilität verbunden. Die Art, wie wir uns durch die Stadt bewegen, bestimmt maßgeblich, wie und wo wir wohnen können. Man stelle sich vor, auf den Straßen dominieren emissionsfreie und leise Mobilitätsformen statt der heute verbreiteten Verbrennungsmotoren – es verändert sich das gesamte städtebauliche Gefüge. Straßenräume können neu gedacht, Flächen umgenutzt und anders wahrgenommen werden, die Hauptstraße mit dem Durchgangsverkehr ist letztlich nicht mehr das Problem. Wenn der Lärmpegel sinkt, sind weniger Schallschutzmaßnahmen notwendig und damit sinken die Baukosten. Es entsteht ein anderes Umfeld für öffentliche Nutzungen im Erdgeschoss und eine Stadt, in der ich gerne zu Fuß unterwegs bin.

Wenn Mobilität jetzt noch die vertikale oder unterirdische Dimension mit einbezieht, gewinnen wir neuen Raum für urbane Lebensqualität. Das Beispiel Magnetschwebebahn könnte mit bepflanzten und mit Photovoltaik ausgestatteten Trassen zeigen, wie es geht. In vergleichbarer Art lassen sich viele weitere Innovationen denken, wenn man aus einem dichotomen Entweder-Oder zu einem integrativen, in die Zukunft gerichtetem Denken gelangt.

Und hier ist nicht an den Stadtgrenzen zu verharren, denn die Metropolregion Berlin-Brandenburg ist längst Realität. Fast 340.000 Menschen pendeln täglich zwischen Berlin und Brandenburg. Mit einer schnellen und zuverlässigen Nahverkehrsanbindung erschließen sich neue Chancen in Städten wie Angermünde, Frankfurt (Oder) und Wittenberge.

Es gibt viele Wege, Berlin zu einer Stadt zu machen, in der wir gerne leben. Eine Stadt, deren größte Qualität es doch ist, unfertig zu sein und Menschen willkommen zu heißen, die Veränderung suchen und wollen. Sie ist eben keine Stadt des Adels oder der Kaufmänner und ihrer Gilden, sondern der Zweitgeborenen, der Glücksritter, der Vertriebenen. Hugenotten, Russen, Türken und Kurden, Inder, Polen, Syrier und all jene, denen ihre Kleinstadt, ihr Dorf zu eng wurde. Sie sind nicht hier, weil alle Entscheidungen schon getroffen sind. Sie bringen ihre Ideen, ihr Engagement und ihre Träume mit und tragen so zur beständigen Transformation der Stadt bei.

Diese Kultur der Ermöglichung darf nicht zugunsten einer Kultur der Verhinderung verschwinden. Wenn Besitzstände konserviert, wenn Wandel blockiert und wenn Vielfalt durch Dogma ersetzt wird, dann verliert Berlin das, was es groß gemacht hat. Dann wird aus der Hauptstadt des Möglichen eine Stadt der verpassten Chancen. Umso drängender ist die im Frühjahr begonnene Verwaltungsreform, die den Angestellten des Senats und der Bezirke nicht nur eindeutige Aufgaben und Zuständigkeiten zuweisen sollte, sondern ihnen ebenso auch Freiheiten und Handlungsspielräume einräumen muss.

Zu unserer Stadt gehört das futuristische ICC genauso wie die traditionelle Traufkante, gehören Hochhäuser in Mitte genauso wie der Bungalow in Mahlsdorf. Für das Wohnen der Zukunft braucht es darum eine Haltung, die die Ambivalenz der Stadt nicht als Problem begreift, sondern als ihr Wesen. Eine Stadt ist immer ein Kompromiss. Sie ist laut und leise, dicht und offen, geplant und gewachsen. Wenn wir dies akzeptieren, wenn wir die Unterschiede nicht nur dulden, sondern als Antrieb begreifen, dann wird Wohnen auch für alle Menschen wieder mit Freiheit verbunden sein.